Im Gespräch mit der Künstlerin.

Sie lebt und arbeitet in Frauenfeld und unterwegs. Simone Kappeler bricht 1981 zu einem Roadtrip durch Amerika auf. Im Gepäck hat sie eine Hasselblad, eine Kleinbild- und eine Polaroidkamera, mit der sie spontan fotografieren kann. Unterwegs kauft sie viele Billigkameras hinzu, um unbefangen schnappschussartige Bilder machen zu können. Was zählt, ist der Augenblick. Diese Reise führt sie zu einer Befreiung des Sehens. 35 Jahre später offenbart sich in der Auswahl und Komposition der unterschiedlichen Bilder eine konsistente Haltung, die als künstlerische Handschrift lesbar ist. Die Bilder von 1981 sind spontan, lebendig, den Menschen, Szenen und Stimmungen zugewandt. Sie haben nichts von ihrem Zauber verloren. Den Text zum Buch hat Dr. Peter Pfrunder, Direktor Fotostiftung Schweiz, verfasst.

Was war der Auslöser für diese Reise?

Ich war 28 und war, alles eingerechnet, 20 Jahre meines Lebens zur Schule gegangen. Da ich während der Semesterferien meist arbeitete, waren meine Reisen zuvor nie wirklich lange, ich meine so lange, dass man beim Weggehen nicht schon wusste, wann man zurück sein würde. Meine um ein paar Jahre älteren Freunde waren nach der Schule nach Indien gepilgert oder in einen Kibbuz arbeiten gegangen. Ich wollte weder meditieren noch Orangen pflücken, sondern Neues erleben und fotografieren. So beschloss ich, einen Freund aus der Fotoklasse in New York zu besuchen und länger in den USA zu bleiben. 1981 war eine Reise in die Staaten noch verheissungsvoll. Die Schweiz war damals nicht gerade weltoffen, und ich wollte das Land der unbegrenzten Möglichkeiten unbedingt kennenlernen. Als dann Karin Schiesser Feuer fing für meine Reisepläne und wir beschlossen, zu zweit zu gehen, liessen wir unseren Träumen freien Lauf.

Du hast auf dieser dreimonatigen Reise sehr viel fotografiert. Weshalb hast du diese Bilder erst jetzt ausgewertet und zu einem Buch zusammengestellt?

Ja, ich habe sehr viel fotografiert, und gegen das Ende der Reise immer mehr. Die Bilder sind in einer Flut zu mir gekommen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören, sie zu machen. Bei mir ist es so: In diesen besonderen Momenten, wo ich fotografiere, dehnt sich die Zeit, du bist wie in einer höheren Sphäre, wie auf einem Trip, wenn du plötzlich diese Bilder in der realen Welt siehst und dein technisches Know-how unbewusst abrufen kannst, um genau diese Stimmungen und Momente rüberzubringen und aufzubewahren, die im selben Augenblick, wo du abdrückst, ja schon der Vergangenheit angehören. Dieses Glücksgefühl macht süchtig. Die ganze Auswertung des fotografischen Materials ist eine andere Sache. Natürlich ist es schön, die Bilder zu betrachten und zu einem Buch zu komponieren. Es braucht Zeit, sehr viel Zeit. Und eigentlich müsste ich mich für die Auswertung einschliessen, um ohne Ablenkung die Arbeit zu Ende zu bringen. Sonst interessiert mich bald wieder anderes.

Nach dieser Reise hatte ich einige kleinere Auswertungen gemacht und mit zwei Serien das Nikon-Stipendium und das Eidgenössische Kunststipendium gewonnen. Auch eine Kunst-am-Bau-Installation und mehrere Ausstellungen hatte ich vor allem mit den Billigkamera-Bildern gemacht. Aber für ein Buch hätten mir die Mittel gefehlt. Im Kanton Thurgau gab es damals noch kaum Kulturförderung. Ich hätte Pro Helvetia angehen müssen. Aber ob ich da so kurz nach der Ausbildung Geld bekommen hätte? Jedenfalls hatte ich es nicht versucht, und so blieb das Gros der Fotos unausgewertet im Archiv. Erst in den letzten Jahren machte ich eine neue Zusammenstellung mit allen Bildern der Reise, und dass sie jetzt bei Codax als Buch erscheinen, ist eine Verkettung glücklicher Umstände: Peter Pfrunder von der Fotostiftung Schweiz sah eines der Bilder im Grossformat an der Messe Paris Photo am Stand meiner Pariser Galeristin. So kam es zu einem Ankauf von einer Serie der «America»-Bilder durch die Freunde der Fotostiftung und ebenso zu der Jahresgabe der Stiftung, die auch du, Jürg, erhieltest.

War für die Zusammenstellung zum Buch der zeitliche Abstand ein Vorteil?

Ja, definitiv! Da ich die unterschiedlichsten Kameras und Filme benutzte, ist die Bildsprache nicht einheitlich, was in den frühen 1980er-Jahren total unüblich war. Es war nicht wie heute, wo die Kunst polyvalent ist. Die Serien, die ich damals zusammenstellte, mischten wohl Farbe und Schwarzweiss, aber nicht die Techniken durcheinander. Die heutige Zusammenstellung nimmt keine Rücksicht auf die verschiedenen Fotografiestile, sondern folgt chronologisch der Reise. So ist ablesbar, wie sich meine Fotografie entwickelt hat, wo ich welche Schwerpunkte setzte: etwa, wo mir mehr nach Schwarzweiss zumute war oder wo unbedingt Farbe sein musste, an welchen Orten ich viele Bilder machte, wo ich Genauigkeit der Wiedergabe verlangte und wo es mehr um Stimmungen und Farbräume ging. Die Ordnung nach Datum entwickelt auch ihren eigenen Sog, da die Bilder, die thematisch zusammengehören, jetzt beieinander sind. Man erlebt, wie die Landschaften ändern usw.

Mit dem langen Zeitabstand hat sich möglicherweise auch der Blick auf die Auswahl verändert. Und durch die intensive Beschäftigung mit dem gesamten Bildmaterial habe ich mir die Reise nochmals vom Anfang bis zum Schluss vergegenwärtigt, was für mich ein sehr schönes Erlebnis war.

Kannst du etwas sagen zu den Auswahlkriterien, vielleicht ganz allgemein betrachtet?

Die Auswahl ist etwas Wichtiges in der Fotografie. Es ist ja nicht einfach alles gut, was man ablichtet. Man hat zwar diese Intension, diese Vorstellung vor dem inneren Auge, aber das Material kann einem durchaus einen Streich spielen und das Bild zeigt nicht, was man erhoffte. In einem Schwarzweissbild fehlt möglicherweise eine gute Tontrennung, oder bei einer Szene hat man zu lange gezögert mit Auslösen und den spannungsreichen Moment verpasst. Oder ein Bild wirkt langweilig, starr oder leer. Sobald die Bilder gemacht sind, zählen nur noch diese.

Beim Auswählen muss man eine gewisse Härte haben. Es muss unpersönlich geschehen, kühl. Eigentlich müsste man dazu ein anderer, Unbeteiligter sein. Denn beim Fotografieren selbst gibt es immer diese Anhänglichkeit, die Verbindung zum Erlebnisraum, worin das Bild entstand. Zu dieser Verbindung muss man Abstand nehmen, sie ist jetzt nicht mehr da. Man darf beim Auswählen nie sentimental sein.
Ob man sich für oder gegen ein Bild entscheidet, ist schwer zu begründen. Die Foto muss etwas haben, was einen länger interessiert, sie sollte sich einem nicht sofort erschliessen. Es sollte auch kein Déjà-vu-Effekt eintreten. Wiederholungen entwerten in einem Buch die vorhergehenden Bilder. Man darf ein Motiv auch nicht ausnutzen, indem man zu viel von ihm zeigt. Harmonie kann langweilig sein, es sollte auch etwas geschehen an den Rändern eines Bildes. Man muss auch Brüche zulassen: Eine Foto, die nicht in die Abfolge passt, erzeugt eine Reibung, die interessant sein kann.

Welche Projekte hast du im Moment?

Da mich ein Projekt meist über Jahre beschäftigt, gibt es stets mehrere nebeneinander. Reisen sind da natürlich ausgenommen. Während der letzten fünf Jahre machte ich sehr viele Cyanotypien von Pflanzen an ihren Wildstandorten. Cyanotypien sind Sonnenbelichtungen. Es ist eine der ältesten Techniken in der Fotografie, die cyanblau-weisse Negativbilder im Massstab 1:1 erzeugt, welche ohne Kamera und Linse entstehen. Parallel dazu beschäftige ich mich mit experimenteller Polaroidfotografie, wo es darum geht, inwieweit die Ästhetik der bildlichen Darstellung von fotochemischen Einwirkungen kompromittiert wird. Und weiter fotografiere ich seit 2012 mit der präzisen und detailreichen Mittelformatkamera analog die alten Birnbäume im Thurgau in klassischem Schwarzweiss. Ich fotografiere sie in ihrer Ruhe einzeln als individuelle Gestalten, als Persönlichkeiten, welche die Landschaft prägen. Dabei gehe ich phänomenologisch vor und erarbeite mir jedes Bild neu. Ich umkreise den Baum, der mich interessiert, betrachte ihn von allen Seiten, beobachte die Verschiebungen der Äste und das Spiel mit den Himmelsstrukturen im Hintergrund, bevor ich mich für eine Ansicht entscheide.

Ausserdem bin ich dabei, meine Fotoarbeiten zum Thema Körper aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren zu einem Buch zusammenzustellen.

Die Buchhandelsausgabe ist im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, ISBN 978-3-85881-679-5, erhältlich.

Interview
Dezember 2019