Im Gespräch mit dem Künstler.

Er ist bekannt für seine ersten vier Bücher «Helix, Cavallo Point» (2008), «Landfall» (2004), «Waters in Between» (2009) und «Swarm» (2011). Im neusten Buch, «Apophenia», geht der Künstler einen neuen Weg: Inspiriert von den Postkarten, die er im Nachlass seines Vaters fand, verwendet er nur hochformatige Bilder. Die Postkarten nämlich forderten ihn heraus, mit eigenen Werken darauf zu reagieren – und dabei auch die eigenen Sehgewohnheiten zu reflektieren. Eine raffinierte Strategie, die weit über formalistische Äusserlichkeiten hinausgeht. In «Apophenia» hat der Künstler eine verblüffende Form gefunden, um Naheliegendes und Entferntes, Kleines und Grosses miteinander zu verbinden. Man schaut und staunt.

Sie leben und arbeiten in San Francisco, sind von der engen Schweiz in die USA ausgewandert. Wann war das, was waren die Gründe?

Ich bin, kurz nachdem ich die Matura gemacht und das Lehrerseminar in Zürich beendet hatte, Anfang 1981 fortgegangen. Ursprünglich stellte ich mir vor, ein Jahr in einem anderen Land zu verbringen, und nun ist es ein Leben geworden. Nach der langen Schulzeit fand ich es nicht richtig, sofort als Lehrer im Schulzimmer weiterzumachen. Ich wollte fort, eine fremde Sprache lernen und andere Menschen kennenlernen. Die Schweiz war damals noch viel homogener. Aber mein Hauptdrang war, irgendwo Kunst zu studieren. Obwohl ich mir ein Leben als Primarlehrer vorstellen konnte, schwelte schon lange ein Bedürfnis in mir, Bilder zu machen. Ich hatte das Gefühl, dass ich da was zu sagen hätte, hatte aber keine Ahnung, wie. Das Jahr im Ausland sollte eine Gelegenheit sein, diese Gefühle zu prüfen und freizusetzen. Mithilfe eines Stipendiums des Kantons Zürich für den zweiten Bildungsweg immatrikulierte ich mich am San Francisco Art Institute. Ich fand eine neue Welt, in der ich meinen Gefühlen und Ideen freien Lauf lassen konnte und in der durch das Beispiel einflussreicher Lehrer und Künstler, besonders Larry Sultan und Linda Connor, eine konzeptionelle Öffnung für den Ausdruck all dieser jungen Energien geschaffen wurde. Es half auch, weit weg von der Heimat und den Schweizer Normen zu sein. Punkmusik war in voller Blüte im San Francisco der 1980er-Jahre, und obwohl J. S. Bach mein tiefster und wichtigster Halt war – und immer noch ist –, war das überwältigende Spektrum der Ausdrucksmöglichkeiten inspirierend. Nach einem Jahr war es mir klar, dass ich Künstler werden wollte, und ich beendete mein Studium 1985 mit einem Master in Fine Arts. Damals erhielt man nach einem MFA-Abschluss eine einjährige Arbeitsbewilligung, und ich begann, meinen Lebensunterhalt als Taxifahrer zu verdienen. Fotografieren war bereits eine Lebenseinstellung, und wann immer ich etwas Geld hatte, ging ich auf Reisen. Die ersten Ausstellungen und Lehraufträge folgten bald – und ich blieb hängen. San Francisco ist eine tolle Stadt, und die faszinierende und vielfältige Landschaft, die sie umgibt, ist einfach zu erreichen. Aber ich vermisse auch die kulturelle Dichte von Europa, die geniale Verbindung von Alt und Neu und die köstlichen Zürcher Wähen.

Neben Ihrem künstlerischen Schaffen unterrichten Sie an der Stanford University. Man sagt, wer im Silicon Valley erfolgreich sein will, darf alles, nur nicht normal sein. Gilt das auch für die Kunst?

Wenn ich in der Schweiz bin und ab und zu einen der vielen Artikel lese, die über das Silicon Valley erscheinen, wird es mir klar, wie die Medien diese Geschichte aufbauschen und verallgemeinern. Man ist richtig geil darauf, immer wieder irgendeinen kuriosen Typen zu finden, so dass man dem neidischen Publikum nochmals eine interessant erscheinende Geschichte verkaufen kann. Das Silicon Valley ist ein dynamisches Gebiet, in dem sich von brillanten Erfinderinnen und Erfindern bis hin zu vielen langweiligen Geschäftsmännern alles tummelt.

Ich unterrichte an einer Universität, weil ich hoffe, als Lehrer jungen Menschen – und dadurch vielleicht der Gesellschaft im Allgemeinen – etwas Wichtiges, nämlich die Fähigkeit, sich auszudrücken und verantwortlich zu sein, zu vermitteln. Zudem befreit mich diese Arbeit von der Abhängigkeit vom Kunstmarkt, der ja gar nichts mit Kunst zu tun hat.

Darf man als Künstler «normal» sein, um erfolgreich zu sein? Alle Künstler sind normal, es ist die Gesellschaft, die abnormale Normen erfindet. Was für Künstler wichtig ist, ist, dass man wahrhaftig zu seiner individuellen Ausdrucksweise steht. In der modernen Kunst haben sich die Möglichkeiten dieser Ausdrucksweisen sehr erweitert, was manchmal als «ausserhalb der Norm» verstanden wird. Zum Beispiel konnte sich ein Maler zu gewissen Zeiten nur durch ein historisches oder religiöses Bild ausdrücken. Liebe musste symbolisch als christliche Liebe gemalt und codiert werden. Das hat sich zum Glück geändert, aber die gesellschaftlichen Normen hinken immer hinter den progressiven Konzepten der Künstler hinterher. Und Erfolg hat meiner Meinung nach gar nichts mit Erfolg im Kunstmarkt zu tun. Erfolg für die meisten Künstler heisst, dass die Methode und das Arbeitsverfahren des Kunstmachens reichhaltig sind.

Wo findet Ihr Schaffen als Künstler mehr Zuspruch, in den USA oder in der Schweiz?

In den 1980er- und 1990er-Jahren hatte ich meine wichtigsten Ausstellungen in der lokalen West Coast Scene von Kalifornien. Nach 2000, vor allem durch meine Zusammenarbeit mit der Stiftung für Fotografie und mit Lars Müller Publishers, hat sich dies eher nach Europa verschoben. Allerdings sind für mich meine Bücher meine wichtigsten Arbeiten. Und was an Büchern toll ist, vor allem wenn sie international vertrieben werden, ist, dass sie die Übersicht und die Kontrolle des Künstlers oder Autors verlassen. Sie sind ein wenig wie erwachsene Kinder, die ausfliegen und ein eigenes Leben beginnen. Ich weiss nicht, wer sich wo mit einem meiner Bücher auf dem Sofa ausstreckt, und das ist toll.

Zufall und Methode – die Spannung zwischen Ordnung und Chaos, zwischen klaren Vorgaben und intuitiver Offenheit – zieht sich durch Ihr Schaffen. Wie erklären Sie sich das?

Dies scheint mir die dynamische Eigenschaft des Lebens an sich zu sein. Vielleicht kann man in dieser Weise das Kunstschaffen als einen biologischen Vorgang ansehen? Die Intelligenz, die wir als Menschen erben, will ordnen und die Welt durch Konzepte verstehen. Dies ist ein wichtiger Teil des Kunstschaffens; aber ich glaube, dass wenn nur dieser Teil des Körpers gebraucht wird, die Kunst bald langweilig wird. Der Zufall und das Intuitive sind für mich wichtige Bestandteile der Arbeitsweise, und wenn sich die beiden gegenseitig mit Intelligenz «befruchten», wird es spannend.

Sie geben mit «Apophenia» ein neues Werk heraus, das im Verlag Codax Publisher erscheint. Steht es in einem Zusammenhang mit früheren Werken? Oder steht «Apophenia» für sich allein?

«Apophenia» steht in einem organischen Zusammenhang mit meinen früheren Arbeiten. Die Arbeiten sind ja ein Querschnitt durch meine bestehenden Archive – mit Blick aufs Vertikale und Unpublizierte. Was neu für mich ist, ist die Aneignung oder «Appropriation» eines fremden Archivs. Aber da das angeeignete Archiv das Postkartenarchiv meines Vaters ist, ist es ja auch gar nicht so fremd. Es repräsentiert Bilder, die ich als Kind gesehen hatte, als ich aufwuchs.

Was fasziniert Sie am neuen Werk «Apophenia» besonders?

Ich finde es interessant, wie wir Bilder verstehen und aufnehmen. Der Titel «Apophenia» spielt ja auf dieses Phänomen an. Das Wort kommt von der Psychiatrie und beschreibt den Drang unseres Gehirns, Verbindungen zu schaffen und diesen Verbindungen Bedeutsamkeit zuzuordnen.

Ich gebrauchte dieses Phänomen, um die zwei Archive zu verbinden. Dies erlaubt mir auch, eine andere Seite meines Schaffens zu zeigen. Über die Jahre destillierte sich heraus, wer ich als Fotograf bin, was mein Stil ist und was ich für Bilder mache. In Wirklichkeit ist mein Schaffen aber viel breiter, als das, was publiziert oder ausgestellt wird. Ich fotografiere auch gerne Sonnenuntergänge ... Dieses Projekt gab mir die Möglichkeit, in meinen Archiven andere Spuren zu suchen und meine Identität als Künstler zu erweitern.

Sind Sie ein Bücherfreund?

Ich liebe Bücher. Neben Musik und Beziehungen zu Menschen und der Natur sind Bücher ein wichtiger Halt in meinem Leben. Mein Vater war Verleger, und meine Geschwister und ich wuchsen ohne Fernseher auf. Ein Stapel Bücher erweckt in mir noch immer Freude und Neugier. Es ist klar, dass das Internet kein Ersatz für das Buch ist. Allerdings sind gewisse Bücher und sicher Zeitungen besser im digitalen Raum aufgehoben, und dies ist gut. Aber die Welt ist ein analoger Ort und wir werden immer das Bedürfnis haben, Materialien zu betasten und die Zeit durch das Umblättern von Seiten zu verstehen.

Woran arbeiten Sie zurzeit?

Ich will einen konzeptionellen Atlas des Staates Kalifornien schaffen. Kalifornien ist ein Riesengebiet und Atlas ist ein grosses Wort. Das konzeptionelle Gerüst soll helfen, einen Ansatz zu finden. Ich liebe dieses ganze Territorium – von der Küste durch die Städte über die Berge bis hin zu den Wüsten. Ich hoffe, ein Archiv von Bildern zu schaffen, das dies ausdrückt.

Interview Jürg Trösch

Website: www.lukasfelzmann.com

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