Im Gespräch mit der Künstlerin.

Die gebürtige Aargauerin lebt und arbeitet in Luzern. Tatjana Erpens Bilder sind geprägt von einer magischen Ambivalenz, einem Schweben zwischen Traum und Wirklichkeit. Ihre sperrigen Werke erzählen von der sinnlichen Materie und den kreativen Spuren, die von Menschen hinterlassen werden. Sie erzählen von Händen, die noch ganz anderes ausrichten können, als mit den Fingerkuppen über spiegelglatte Touchscreens zu gleiten. Erpens Arbeiten erschöpfen sich nicht in der dokumentarischen Präsentation ihrer Fundsachen. Durch bildhaft-poetische Verdichtungen gelingt es ihr, Assoziationen zu wecken. Fotografisch festgehaltene Objekte und Räume werden im manuellen Siebdruckverfahren verfremdet und neu gedeutet. Gerade dem wertlosesten Material schenkt sie ihre besondere Aufmerksamkeit. Alles ist Improvisation, ohne Streben nach Vollendung. Unspektakuläre Situationen werden zu Schauplätzen rätselhafter Geschichten, denen sich der Betrachter kaum entziehen kann. Eine Archäologie des Überlebens – eine Vergangenheit voller Zukunft.

Was war das letzte Motiv, welches du fotografiert hast?

Diese Woche verbrachte ich viel Zeit im Gelben Haus, dem Künstlerhaus, in dem ich wohne. Ich habe unseren tropischen Ficus aus der Ecke der Stube geholt und von allen Seiten fotografiert – und ein ausgebranntes Haus in einem Vorort von Luzern. Für das jährliche Fotoalbum dokumentierte ich, wie wir hinter unserem Haus den Abfluss der Kanalisation entstopft haben, das war grässlich.

Für einige Arbeiten in diesem Buch warst du im Libanon und in Tansania unterwegs. Ist Reisen wichtig für deine Kunst?

Lange Zeit war ich nur in Regionen unterwegs, in denen ich optisch nicht aufgefallen bin. Ich reise lieber mit einer vollen Einkaufstasche als mit einem Rollkoffer, der mich schon von weitem als Fremde erkennen lässt. Vor meiner letzten Tansania-Reise überlegte ich mir, ob ich in Daressalam ein Huhn als Gastgeschenk kaufen soll. Gerne hätte ich dieses auf der ganzen Reise mittransportiert, wie das dort gängig ist. Zum Wohl des Huhns habe ich mich dann aber dagegen entschieden. Ich verspüre ein grosses Bedürfnis, mich vor Ort anzupassen und einen Alltag zu finden. Deshalb bin ich bei meinen Reisen nicht ständig unterwegs, sondern suche mir einen vorübergehenden Arbeitsort. Diesen Perspektivenwechsel empfinde ich als sehr inspirierend, weil ich mit meinen eigenen Selbstverständnissen konfrontiert werde.

Wie entscheidest du dich für einen Ort, den du besuchst?

Die Aufenthalte ergaben sich aus persönlichen Beziehungen. Im Libanon war es eine befreundete Set-Designerin, die Kontakte zum Atelierhaus Mansion in Beirut hatte. In Tansania hatte ich die Möglichkeit, einen Permakultur-Designer zu begleiten, der vor Ort ein grosses Netzwerk hat und mich in ziemlich abgelegene Regionen mitnahm.

Viel wesentlicher, als welches Land ich bereise, ist die Entscheidung, in welchem Quartier ich dort wohne, wer meine direkten Nachbarn sind und mit wem ich mich austausche. Wenn bei Reisen persönliche, gegenseitig bereichernde Begegnungen entstehen, dann fühle ich mich am richtigen Ort. Der Kontakt mit Menschen aus einem anderen Kulturkreis macht mir immer wieder bewusst, wie klein die Blase ist, in der ich in der Schweiz lebe, und wie leicht ein solches System erschütterbar ist.

Ist deine Kunst politisch motiviert?

Ich will meiner Kunst nicht mit grossen Themen Relevanz verschaffen. Und es entspricht mir nicht, in der Kunst auf das aktuelle, medial übermittelte Zeitgeschehen zu reagieren. Hinter der mächtigen Geschichte finde ich überall Aspekte, die es wert sind, beachtet zu werden. Grossen Fragen und Themen unserer Zeit muss man sich stellen, man kann diese sicher nicht ignorieren. Ob das in der Kunst selber passieren muss oder in der Rezeption, lasse ich offen.

Wo triffst du im Alltag auf die grossen Themen?

Ich lebe in einer Situation, in der ich fast alles entscheiden und selber bestimmen kann. Ob ich Tauben füttere, ohne Fahrradhelm fahre, meine Fingernägel lackiere, Zahnseide benutze – alles ist Ausdruck einer Haltung. Im Kleinen fühlt sich diese Entscheidungsfreiheit sehr gut an. Betrachte ich die ganzen globalen Zusammenhänge, stellen sich aber viele komplexe Fragen. Die Unmenge an kleinen spontanen Entscheidungen bestimmen mein Leben – und auch das von anderen. Beim Lesen in der WOZ begegnet mir immer wieder die Aussage: Der Grundwiderspruch unserer Zeit ist die Unvereinbarkeit unseres Wissens mit unserem Handeln.

Wo kreuzen sich bei dir Geschichte und Alltag?

Wenn ich mit dem Fahrrad von meinem Atelier nach Hause fahre, muss ich mich jedes Mal entscheiden: Nehme ich die Strasse mit den vielen Autos, die Abkürzung über den Strassenstrich oder den Weg, der am historischen Richtplatz vorbeiführt? Auf jedem Weg werde ich mit anderen Geschichten konfrontiert. Die Zusammenhänge erstrecken sich von Ursachen der Migration bis zur Herstellung von Autoteilen, Geschichte erstreckt sich auch weit über regionale Grenzen. Die Geschichte hat uns dahin gebracht, wo wir jetzt sind, und hat die Umstände geschaffen, die unsere Normalität sind. Jetzt sind wir Teil dieser Geschichte und führen sie weiter. Teil einer Geschichte zu sein, mit dem Bewusstsein für eine Vergangenheit und eine Zukunft, das empfinde ich als eine sehr komplexe Sache.

Woher der Buchtitel?

Mich interessieren die Umstände, die Divergenz einer hochtechnologischen Zeit, Entwicklung, die gleichzeitig so abhängig von uraltem fossilem Material und Steinen – oder Rohstoffen daraus – ist wie nie zuvor. «Empty fire in my phone» war die Aussage eines jungen tansanischen Hirten, dessen Akku am Ende war. Feuer als Hauptenergiequelle zu nutzen und nebenbei per WhatsApp zu kommunizieren, das war für mich die gefundene Entsprechung.

Wie wählst du deine Motive?

Im Buch sind die wiederkehrenden Motive Hände, Äpfel und Himmelsverläufe. Hände als Massstab, als Bezugspunkt und als aktive Verbindung zwischen mir und der Welt. Der Abendhimmel als Relation zum grossen Ganzen und als Verbindung von Tag und Nacht, verschiedenen Realitäten. Der aufgeschnittene Apfel als Einblick in Verborgenes. Ich lebe in einer Welt von Hinterlassenem, und nur ein kleiner Bruchteil darin ist selbst geschaffen. Das, was hinterlassen wurde, beschäftigt mich, denn es ist das, was mich umgibt und Geschichte in sich trägt. Ich habe oft keine konkrete Vorstellung von den Motiven, die ich suche, doch wenn ich ihnen begegne, dann wecken sie mein Interesse. Zum Beispiel die Bilder der Reihe «Kash Hamam», sie zeigen einen Taubenschlag, Peitsche, Steinschleuder, Fahne, Kartons und Zwiebeln als Geschosse. Sie sind feste Bestandteile der Taubenzüchterkultur auf Beiruts Dächern, die mir vorher unbekannt war.

Dich interessieren die «hinterlassenen Objekte», suchst du sie auch in Museen?

In unserer Ordnung gibt es nicht viel Platz für Hinterlassenes, Improvisiertes und Gegenstände, die Geschichte in sich tragen. Obwohl «Made in China» zum Beispiel ja eine riesige Geschichte mit sich trägt, bleibt diese nur schwer nachvollziehbar. Deshalb liebe ich Sammlungen von Museen. Mich beschäftigt seit einiger Zeit ein Stück Holz mit einem Loch drin, welchem ich im Museum der Kulturen in Basel begegnet bin. Es diente dazu, die Grösse der Opferhühner auf Bali zu messen, um keine zu kleinen, und somit «unwürdigen», Hühner zu opfern. Es erinnerte mich an den Hühnerknochen, den Hänsel und Gretel der Hexe hinstreckten, um sie über die Dicke des Fingers zu täuschen. Erst durch die Handlung bekommt ein Objekt eine Bedeutung.

Du magst das Archaische, wie bewegst du dich in der Zeit?

Kürzlich habe ich das erste Mal am Flughafen einen Zoll mit automatisierter Passkontrolle und Gesichtserkennung passiert. Kurz davor besuchte ich in Tansania ein Trainingszentrum für Ratten. Die ausgebildeten Tiere erschnüffeln Landminen unter der Erde und Tuberkulose im Speichel von Patienten. Ihr Geruchssinn ist jeder Technologie weit überlegen, und die Arbeit mit Ratten ist höchst effizient. Das Archaische ist wohl zugleich auch das Sinnliche, zu dem ich eine unmittelbare Beziehung aufbauen kann. Das Material und die Berührung bleiben wichtige Teile unserer Wahrnehmung, Materialität beinhaltet eine unmittelbare Realität. Ich mag die Münze aus Metall, die für einen Wert steht, die man hören und ertasten kann, mit der man auch eine Schraube aufdrehen oder etwas unterlegen kann. Mit der Kreditkarte lassen sich auch Türen aufbrechen, das gefällt mir.

Woran arbeitest du zurzeit? In Zukunft?

Im Moment bin ich an Vorbereitungen für eine Ausstellung nächstes Jahr, ich forsche weiterhin im Gebiet von Wahrnehmung, Wissen und Geschichte. Ob dies in meiner eigenen Stube, in einem Rindergehege in Tansania oder in einer Bäckerei im Libanon umgesetzt wird, ist noch offen.

Zurzeit pflege ich regelmässigen Austausch mit Tansania und suche nach einer Spur, die ich verfolgen könnte. Ich erzähle von Katzenbäumen, der Hornkuh-Initiative und Hexenverbrennungen, erkläre meine Welt und lasse mir eine andere erklären.

Vor kurzem wurde ich gefragt, wie mein Kinoabend gewesen sei, so stellte sich mir die schöne Aufgabe, einem afrikanischen Hirten von Peter Mettlers Film «Becoming Animal» zu erzählen.

Interview Jürg Trösch, Dezember 2018

Website: tatjanaerpen.ch

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