Im Gespräch mit dem Fotografen.

Lago del Zött, 2011 © Georg Aerni/Fotostiftung Schweiz/Codax Publisher

Lago del Zött, 2011
© Georg Aerni/Fotostiftung Schweiz/Codax Publisher

Auf seinen Streifzügen durch Stadt und Land profilierte sich Georg Aerni als unermüdlicher Flaneur und Beobachter: Aerni entdeckt Behausungen, Konstruktionen und Objekte aller Art, die er in präzise, sorgfältig komponierte Bilder übersetzt. Bei seinen Arbeiten steht die Auseinander­setzung mit Veränderung und Vergänglichkeit im Vordergrund. In der Verschmelzung von Kunst und Dokumentation macht Silent Transition die Spuren der stillen Übergänge zum Gegenstand einer kontemplativen Betrachtung. Gleichzeitig stellt Aerni mit dem Werk brisante Fragen: zu unserem Umgang mit natürlichen Ressourcen, zu den gesellschaftlichen Hintergründen der unkontrolliert wachsenden Städte, zur Bedeutung von Wachstum und Verfall, die zur Erneuerungskraft der Natur gehören. Die Texte zum Buch haben Peter Pfrunder, Direktor Fotostiftung Schweiz, und Sabine von Fischer, NZZ Feuilleton, Themen Architektur und Design, verfasst.

Georg, du hast Architektur an der ETH in Zürich studiert, aber nur wenige Jahre als Architekt gearbeitet. Wann und wie begann es eigentlich, dass du Fotograf und Künstler wurdest?

Rückblickend erinnere mich an folgende Puzzleteile von Einflüssen und Zufällen: Bereits während des Architekturstudiums (1980–1986) war die Fotografie für mich sehr wichtig. Da an der ETH ein Fotolabor zur Verfügung stand, konnte ich dieses Medium bei zahlreichen Aufgaben einsetzen, und wegen meiner Begeisterung für das Fotografieren von Industriearchitektur stiess ich schon damals auf Publikationen von Bernd und Hilla Becher. Nach dem Studium arbeitete ich sechs Jahre im Winterthurer Architekturbüro Arnold Amsler und lernte im Rahmen eines Kunst-am-Bau-Projekts – nebst Bendicht Fivian und Markus Raetz – den Fotografen Balthasar Burkhard kennen. 1990 konnte ich erstmals eine Serie Bilder des Sulzer-Areals Winterthur öffentlich präsentieren – amüsanterweise in den Fabrikräumlichkeiten des drei Jahre später unter Urs Stahel eröffneten Fotomuseums, dessen Ausstellungen ich von Beginn an aufmerksam verfolgte. Für meinen beruflichen Werdegang entscheidend war schliesslich ein Aufenthalt in Paris (1992–1994). Nachdem es dort mit einer Anstellung als Architekt (glücklicherweise) nicht klappte, nahm ich mir viel Zeit und Musse, die Stadt und ihre kulturellen Einrichtungen ausgiebig zu erkunden und mich intensiv mit Fotografie auseinanderzusetzen. Sonntags ging ich oft im Wald von Fontainebleau bouldern und lernte dort zufällig den Genfer Fotografen Maurice Vouga kennen, der in Paris lebte. Durch ihn kam ich zum ersten Mal mit einer Grossformat-Fachkamera in Berührung, und er stellte für mich den Kontakt zum Musée Carnavalet her, wo dann 1996 meine erste Einzelausstellung «Panoramas parisiens» gezeigt wurde.

Dein Werk bewegt sich entlang der Schnittstelle zwischen Kultur und Natur. Wie findest du die Motive, die sich als Bilder eignen und auch jenseits des konkreten Kontexts aussagekräftig sind? Sind es spontane Entdeckungen? Oder gibt es auch gezielte Recherchen?

Bei zahlreichen Werkreihen über Städte begann ich meine Arbeit jeweils nach der Ankunft mit dem Studium von Karten und Publikationen und vor allem mit tagelangen Spaziergängen. Anhand von Kleinbildaufnahmen versuchte ich dann, ein Aufnahmekonzept zu bestimmen, um in einer zweiten Aufenthaltsphase die definitiven Aufnahmen mit der Grossformatkamera zu machen, zu einer bestimmten Tageszeit unter Berücksichtigung des jeweils gewünschten Lichteinfalls und Wetters. Seit einiger Zeit recherchiere ich oft vorgängig im Atelier potenzielle Aufnahmeorte mittels Karten und Luftbildaufnahmen, um dann vor Ort für die erhofften Bilder mehr Zeit zu haben, so zum Beispiel bei den Serien El jardín de los ciclopes (Campo de Dalías, 2012), Plastiche (Apulien, 2015–2016) und Silent Transition (Kairo/Gizeh 2018). Bei den Einzelwerken handelt es sich oft um Motive, denen ich spontan begegne. Manchmal bleibt deren Zustand nur für kurze Zeit bestehen, sodass mir für eine Aufnahme nur ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung steht, und manchmal sind es Motive, die ich auf einer Wanderung, einem Stadtspaziergang oder aus dem Zug heraus entdecke und die dann vielleicht jahrelang als Karten-App-Markierung auf meiner «Warteliste» bleiben.

Woran liegt es, dass ganz banale Objekte in deinen Bildern plötzlich so surreal erscheinen? Hängt das mit der Perspektive des Fotografen zusammen, also einer Art Inszenierung, oder liegt es eher an den objektiven Gegebenheiten und Situationen?

Vielleicht hätte ich zu wenig Inspiration, um mit anderen Medien in einem abgeschlossenen Atelierraum künstlerische Arbeiten zu schaffen, und bin froh, als Fotograf draussen in der Welt auf Situationen zu stossen, die meine Imagination anregen. Dabei bin ich von Objekten angezogen, die eine gewisse Rätselhaftigkeit beinhalten, weil zum Beispiel ihre Funktion nicht klar ersichtlich ist und sie bei mir verschiedene Assoziationen auslösen. Ein surreales Erscheinungsbild stellt sich oft ein durch die Isolation eines Objekts, durch das Weglassen des Kontexts und die damit verbundene Verunklärung des Massstabs. Es wird zudem beeinflusst durch die Wahl der Perspektive bzw. die «Aughöhe» der Kamera. Und immer wieder sind es bestimmte Licht- und Wetterverhältnisse, die etwas Gewöhnliches unerwartet «magic» erscheinen lassen.

Wie kannst du dein Wissen und deine Erfahrung als klassischer Architekturfotograf (bzw. als ausgebildeter Architekt) in dein künstlerisches Werk einbringen?

Ich denke, dass ich in allen Bereichen vom Wissen, von den Erkenntnissen der jeweils anderen Bereiche habe profitieren können und alle fotografischen Arbeiten schliesslich ein Resultat meines Erfahrungsrucksacks sind, den ich mit mir herumtrage.

In deinem jüngeren Schaffen scheint die Natur eine stärkere Rolle zu spielen, zum Beispiel in der Serie über Schwemmgehölz am Ufer der Maggia oder bei den Baumstämmen mit eingewachsenen Drähten usw. Gibt es eine Erklärung dafür?

Diese Einschätzung teile ich nur bedingt, da die Natur seit 20 Jahren in meinem Werk immer wieder sehr präsent ist. Allerdings zeige ich sie meist in Verbindung mit Zivilisationsspuren. Es interessiert mich schon lange das Nebeneinander von natürlicher und gebauter Umwelt, wie natürliche und künstliche Elemente sich verzahnen und durchdringen, so wie in den Aufnahmen der Serie Waldlichtung (2020), die Bäume mit eingewachsenen Drähten zeigt. Bei den Schwemmgutformationen entlang der Maggia/Bavona (Ordine temporaneo, 2021) infolge Hochwassers stellt sich die Frage, wie natürlich oder wie menschgemacht diese sind, bzw. für welche Folgen der Klimaerwärmung wir verantwortlich sind. Diese Thematik verbindet die Tessiner Serie mit meiner Serie Holozän (2006–2008), die sich mit dem Schwund alpiner Gletscher auseinandersetzt.

In vielen Bildern spielt der Zufall eine wichtige Rolle, das Ungeplante, sozusagen die «unbewusste Architektur». Was interessiert dich an diesen Erscheinungen?

Ja, der Zufall spielt mir immer wieder in die Hände, und je mehr ich draussen unterwegs bin oder verweile, desto häufiger. Obwohl es für mich grundsätzlich keine uninteressanten Gegenden gibt und ich nahezu überall eine spannungsvolle Konstellation vorfinden könnte, braucht es zusätzlich meine innere Bereitschaft und Offenheit, diese zu erkennen.

Lässt sich der Begriff der Komposition auf deine Bilder anwenden? Einerseits sind es ja sehr dokumentarische Bilder, andererseits sind die Präzision des Ausschnitts und die visuelle Organisation des Dargestellten durch die Fotografie entscheidend für die Kraft deiner Arbeiten. Lässt sich der Anteil an Gestaltung durch den Fotografen beschreiben?

Fotografieren bedeutet für mich, in der Welt Ausschnitte zu wählen und die inszenierten Bildelemente gewichtet und verdichtet miteinander in Beziehung zu bringen. Beim Definieren des Ausschnitts gilt meine Aufmerksamkeit ebenso den Bildrändern wie dem Zentrum, und es gibt kaum unterschiedlich wichtige Bildbereiche. Da ich jeweils mit einer technischen Kamera (mit horizontaler und vertikaler Verstellmöglichkeit des Objektivs) auf einem Stativ äusserst langsam arbeite, ist es mir möglich, bei der Aufnahme die Bildkomposition ständig genau zu überprüfen und zu sehen, was eine kleine Verschiebung der Kameraposition bewirkt. Eine stimmige Komposition kann jedenfalls dazu führen, dass eine vordergründig unspektakuläre Situation im Rechteck einer Fotografie plötzlich eine hohe Komplexität aufweist.

In deinen Bildern bringst du Raum und Zeit zusammen. Die Zeit wurde schon als vierte Dimension der Architektur beschrieben. Was bedeutet dir dieser Aspekt? Lässt du dich bei der Wahl deiner Themen davon inspirieren, suchst du gezielt nach den Zeichen und Spuren, die über den dargestellten Raum hinausweisen?

Fotografien, die nicht im Studio entstehen, frieren immer einen Moment ein, der einmalig ist und sich in Bezug auf Licht und Wetter nie mehr wiederholt. Sie sind somit – Manipulationen ausgeschlossen – immer auch Zeitdokumente, die auf ein «Davor» verweisen. In meinem Werk bildet manchmal die Geschichte eines Ortes oder die Transformation einer Stadt den Ausgangspunkt, ebenso oft aber reagiere ich intuitiv, «unwissend», nur auf Formen, Farben, Oberflächen. Die Geschichte und Bedeutung des Bildinhalts versuche ich dann im Nachhinein, in Erfahrung zu bringen. Wenn dies nicht gelingt, bleibt mir die Imagination. Immer wieder tauchen in meinen fotografischen Arbeiten Gebäude auf, die sich im Bau befinden, sowie Steinbrüche und Kiesgruben, wo Baumaterial abgetragen wird. Diese Orte haben etwas Gemeinsames, indem sie von der Zukunft sprechen und – im Falle längerer Inaktivität – von der Vergangenheit: als Bauruinen bzw. Wunden der Natur. Es gibt von mir kaum Aufnahmen von neuen, perfekten Oberflächen, vielmehr von solchen, die durch Alterungs- und Verwitterungsprozesse einen grossen Reichtum an Patina aufweisen mit Farbverläufen, Rissen und Narben. Ich suche Bilder, auf welchen eingeschriebene Zeit sichtbar wird.

Hast du unsere Editionen hochstehender Fotografie, die wir seit 26 Jahren jährlich veröffentlichen, vorher eigentlich gekannt?

Euren schönen Büchern bin ich immer wieder begegnet, und ich habe mich jeweils gefragt, wer wohl hinter Codax Publisher steckt. Vor einiger Zeit habe ich zu meinem Glück zahlreiche Exemplare von einem Nachbarn übernehmen können. Es freut mich sehr, mit meiner Arbeit nun selbst Teil dieser Buchreihe zu sein. Vielen Dank!

Wie hast du eigentlich deine Auswahl für dieses Buch getroffen?

Eine erste Bildauswahl erfolgte zusammen mit Nadine Olonetzky und Peter Pfrunder anhand von kleinformatigen Prints. Da 2011 die umfassende Monografie Sites & Signs erschien, konzentrierten wir uns auf Arbeiten, die seither entstanden waren. Zusammen mit der Buchgestalterin Hanna Williamson-Koller erfolgte später eine zweite Auswahlrunde, bei welcher auch die Bildabfolge und die Bildgrössen miteinbezogen wurden.

Eine Frage zum Schluss. Welche Projekte hast du im Moment?

Nebst geplanten weiteren Aufnahmen von Berghängen (Falten und Schichten, seit 2019) gibt es die oben erwähnte, stetig wachsende «Warteliste» von Aufnahmeorten.

Die Buchhandelsausgabe ist bei der Fotostiftung Schweiz, Winterthur, und im Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, erhältlich (ISBN 978-3-03942-074-2).

Vom 11. Juni bis 16. Oktober 2022 zeigt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur die Ausstellung Georg Aerni, Silent Transition.

Interview
Dezember 2021