Die grosse Verunsicherung.

«Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig.» Das Zitat von Kurt Tucholsky stammt zwar aus einer anderen Zeit, gilt im Kern aber noch immer. Wenn man, bezogen auf die Lektüre von Geschäftsberichten, «das Volk» mit «die Empfänger» gleichsetzt, mag man zwar den Lesern nicht gerade unterstellen, dass sie das meiste falsch verstehen; vorbehaltlos ist indessen dem zweiten Teil zuzustimmen, wonach «das Volk» das meiste richtig «fühlt».

Es liegt an den Machern der Geschäftsberichte, dafür zu sorgen, dass ihr Werk bei den Empfängern auf eine hohe Akzeptanz stösst. Als Macher, Leser und kritische Analysten von Geschäftsberichten stellen wir fest, dass die Forderungen an die Berichterstattung die Verantwortlichen zusehends überfordern. Politiker und Behörden schnüren das regulatorische Korsett immer enger. NGOs und insbesondere Berater schüren den Trend zu einem immer umfangreicheren und komplexeren Reporting nach Kräften. Die Empfänger mit ihren unterschiedlichen Interessen und Informationsgewohnheiten scheinen dabei vergessen zu gehen.

Trend «Integrated Reporting»

Integrated Reporting wird als disziplinierender Wegweiser zu einer verantwortungsvollen Unternehmensführung gefeiert. Im Grunde genommen ist es nichts anderes als eine Berichterstattung, die offenlegt, wie sich das Unternehmen, die Führung, gegenüber den verschiedenen Anspruchsgruppen verhält und wie es Werte schafft. Doch die Gleichung «Zahlenorgie = Nachhaltigkeit» geht nicht auf. Jeder Schreinermeister weiss, dass sich nackte Zahlen weder als Führungsinstrument noch als Indikator zur Erfolgsmessung eignen. Gleichwohl glauben immer mehr Unternehmen, dass sie sich den Erwartungen der Interessengruppen unterwerfen müssen, und erfüllen etwa die Reporting Standards bezüglich Nachhaltigkeit. Wer punkten will, publiziert alle Informationen, welche die Global Reporting Initiative (GRI) vorgibt, unbesehen davon, ob der Leser all diese Daten wirklich will oder braucht. Um Missverständnisse auszuschliessen: Wir befürworten eine transparente Berichterstattung (auch über Nachhaltigkeit), und wir begrüssen die Vergleichbarkeit globaler Standards. Dem Interessierten müssen alle Informationen zur Verfügung stehen. Hier beginnt ein Teil der Hausaufgaben eines Unternehmens.

Muss jedoch das gesamte Informationsangebot auch gedruckt werden? Oder reicht eine kondensierte Form davon? Welche vertiefenden Informationen gehören auf die Website oder in eine separate Publikation? Unternehmen sind gut beraten, wenn sie sich solche Fragen frühzeitig stellen und sich für benutzerfreundliche Lösungen entscheiden.

Publikations- und Inhaltskonzept

Viele Unternehmen verfügen auf der Ebene der jährlichen Berichterstattung über kein integrales Publikations- und Inhaltskonzept für On- und für Offline. Dabei liegt es bei der zunehmenden Fülle der zu vermittelnden Informationen auf der Hand: Es gilt, die unterschiedlichen Anspruchsgruppen zielpublikums- und nutzergerecht zu bedienen. Dazu ist ein solches Konzept erforderlich. Das führt zu diversifizierter Zuweisung der Inhalte und zu neuen Objekten. Die Inhalte optimal auf die Zielgruppen und Nutzergewohnheiten auszurichten, ist anspruchsvoll. Im Vordergrund muss die Überlegung stehen, wie die Nutzer zu ihren Informationen kommen und wie sich Online- mit Printmedien kombinieren lassen. Ein 400-seitiges Dokument aufzulegen, ist sicherlich keine Lösung. Selbst wenn ein solches die Standards des Integrated Reporting erfüllen sollte.

Stellenwert Design

Design kann Haltungen und Wertvorstellungen vermitteln, Identität verständlich machen. Ein guter Geschäftsbericht erfüllt die Kriterien guter Gestaltung: Dramaturgie ohne Brüche, optimale Leserführung, funktionierendes Zusammenspiel von Text, Bild, Diagrammen und Tabellen, professionellen Bildern, sauberer Typografie, sensibler Materialisierung und tadelloser Ausführung. Bei Online-Ausgaben stehen Kriterien im Vordergrund wie User Experience, responsives Design, optimaler Access, gute Usability und Informationsarchitektur, selbsterklärende Navigation sowie interessante und emotionale Komponenten mit Mehrwert. Design muss primär eigenständig und glaubwürdig sein. Pompöse Gestaltungslösungen für ein Unternehmen, das in der Krise steckt, sind kontraproduktiv. Aufgesetzt und gesucht wirkende Originalität hat im Geschäftsbericht nichts zu suchen. Erzeugnisse, die sich ausserhalb der Unternehmensphilosophie, -strategie und -kultur bewegen, setzen falsche Signale.

Inhalt mit gesundem Menschenverstand

Die inflationäre Zunahme von Vorschriften, Vorgaben, Standards und Erwartungen darf die Verantwortlichen nicht davon abhalten, sich immer wieder auf das Wesentliche zu besinnen und sich zu fragen: «Was würde ich als Empfänger eines Geschäftsberichts selbst gerne lesen?» Wir haben uns diese Frage gestellt und sie mit einer Negativliste beantwortet.

Üppigkeit

Der gedruckte Geschäftsbericht bringt rund 2 Kilogramm auf die Waage und umfasst 412 Seiten. Müssen es 412 Seiten sein? Und warum wird ein Papier verwendet, das mit 135 g/m2 zu den Schwergewichten gehört und sich eher für einen Bildband eignet als für einen Bericht? Und warum gibt es – grosszügige Gestaltung und dramaturgisch eingesetzte Weissräume in Ehren – so viele Leerflächen und ein Dutzend nichtssagender Kapiteltrennseiten? Infolge der inhaltlichen Fülle muss sich der Leser durch 20 oder mehr Seiten kämpfen, bis er endlich auf den Text stösst, der die Entwicklung des Unternehmens im Geschäftsjahr beschreibt (Lagebericht). Die Seiten davor sind für Rubriken reserviert, die sich «Profil», «Meilensteine», «Fokus», «Strategie», «Vision», «Mission», «Erfolgsgeschichte», «Interviews» (mit CEO, VRP, vielleicht auch noch mit allen Divisionsleitern) oder «Das Wichtigste in Kürze» nennen. Letzteres gerne auch mit 20 bis 30 Zahlen über die letzten fünf Jahre.

Unübersichtlichkeit

Wenn der Geschäftsbericht die Visitenkarte des Unternehmens ist, spricht ein unübersichtlicher, unlogisch strukturierter oder verspielter Geschäftsbericht Bände. Das Unternehmen ist offensichtlich nicht in der Lage, die Komplexität der Publikation so zu reduzieren, dass sie für den Leser bekömmlich ist. Wie wird es dann erst um die Organisationsstruktur des Unternehmens, die Prozesse, die Effizienz und die Kundenfreundlichkeit bestellt sein? Oder um die interne Sitzungskultur?

Anbiederung

Die Auswahl der Inhalte wird nicht in erster Linie von der Relevanz der Fakten bestimmt, sondern von den Themen, die bei ausgewählten Anspruchsgruppen gut ankommen. Solche Anspruchsgruppen können die eigenen Verwaltungsräte, Regulatoren und Aufsichtsbehörden oder Politiker sein. Ein typisches Thema sind langatmige Ausführungen über Massnahmen, die zur Erhöhung der Frauenquote im mittleren und oberen Kader unternommen wurden.

Redundanzen

Der Erfolg hat viele Väter. Und folglich viele Autoren. Die inhaltlich gleichen Erfolgsmeldungen werden in verschiedenen Kapiteln abgehandelt, beispielsweise im Vorwort des VRP, im Interview mit dem CEO, im Lagebericht und manchmal auch noch in Gefässen, die sich «Schlüsselzahlen» oder «Highlights» nennen.

Übervorsicht

Kreative Ideen, die hervorragend zum Unternehmen passen würden, scheitern oft an Bedenkenträgern. Nicht selten blocken interne Projektverantwortliche gute kreative Ideen schon in einem frühen Stadium ab. Sie gelangen gar nicht bis auf die oberste Führungsebene, wo sie vielleicht gute Chancen gehabt hätten. Oder Verwaltungsräte killen Ideen, weil sie dahinter mehr Risiken (für sich) als Chancen (für das Unternehmen) sehen.

PR-Sprache

Wer kennt sie nicht, die durch unzählige Adjektive und Floskeln angereicherte Sprache vieler Geschäftsberichte? Entwicklungen und Strategien sind meistens «erfolgreich» und «zielgerichtet», Pardon: «nachhaltig erfolgreich» und «konsequent zielgerichtet». Die Beispiele würden ein ganzes Buch füllen.

Publiziert im Magazin «MK Marketing & Kommunikation»

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